Bereits in den 1970er-Jahren beobachtete der US-amerikanische Allergologe Dr. med. Benjamin Feingold (Buch «Why your child is hyperactive»), dass eine Ernährung ohne künstliche Zusatzstoffe die Symptome von ADHS deutlich reduzieren kann [1]. In den 1980er-Jahren stellte die deutsche Apothekerin Hertha Hafer die sogenannte Phosphat-Hypothese auf. Sie postulierte, dass phosphathaltige Lebensmittel das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwächen und Hyperaktivität begünstigen [2]. Diese These wird heute jedoch nicht mehr vorrangig diskutiert.
Die Ursachen für ADHS sind vielschichtig und nicht abschliessend geklärt. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die verschiedenen Faktoren, die zur Entstehung von ADHS beitragen können, und zeigt ergänzende Massnahmen auf, die in der Beratung berücksichtigt werden sollten.
Welche Einflussfaktoren spielen bei ADHS eine Rolle?
Man geht davon aus, dass die Entstehung von ADHS auf einer komplexen Wechselwirkung verschiedener Einflussgrössen beruht. So führen wohl genetische Dispositionen und andere Einflussfaktoren, z. B. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sowie Umweltfaktoren, zu Abweichungen in der neuronalen Entwicklung, die für die Entstehung der ADHS-Symptomatik verantwortlich sind. Im Gehirn von ADHS-Patienten zeigen sich zudem Veränderungen im Neurotransmittersystem, insbesondere bei der Verfügbarkeit und dem Abbau von Dopamin und Noradrenalin. Medikamente wie Methylphenidat (Ritalin®) zielen darauf ab, die Konzentration dieser Botenstoffe im Gehirn zu erhöhen.
Welche Ursachen und Einflussfaktoren sollten mitberücksichtigt werden?
Ursachen, Einflussfaktoren |
Kommentare, Erläuterungen |
Literatur |
Genetische Faktoren |
|
|
Geschlecht |
ADHS tritt bei Jungen vier- bis fünfmal häufiger auf als bei Mädchen. |
|
Polymorphismen |
Veränderungen im Dopamintransporter-Gen (DAT) beeinflussen die Verfügbarkeit von Dopamin im synaptischen Spalt. Zudem wurden bei männlichen ADHS-Patienten erhöhte Spiegel des Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) festgestellt. |
[3] |
Psychosoziale Faktoren |
|
|
Milieu |
Ein instabiles Elternhaus, unzureichende emotionale Unterstützung oder belastende schulische und soziale Bedingungen. |
|
Medien |
Übermässige Nutzung von digitalen Medien wie Smartphones, Fernsehern und Computern. |
|
Neurobiologische Faktoren |
|
|
Einflüsse während Schwangerschaft und Geburt |
Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, ein übermässiger Konsum von Alkohol, Drogen oder Tabak sowie eine Mangelernährung während der Schwangerschaft. |
|
|
Eine chronische Belastung mit toxischen Metallen während der Schwangerschaft. |
|
Ernährung
|
|
[4]
|
Lebensmittelzusatzstoffe |
Farbstoffe, Konservierungsmittel, Süssstoffe, Phosphate, Aromastoffe |
[5] |
Lebensmittel-Unverträglichkeiten |
Unverträglichkeit gegenüber Kuhmilch, Weizen oder Eier |
|
«Normale» Lebensmittel-Inhaltsstoffe |
Mehr als die Hälfte der ADHS-Patienten weist erhöhte Histamin-Blutspiegel auf, was auf eine mögliche Beteiligung des Histamin-Stoffwechsels hinweist. Natürliche Salicylverbindungen in Obst, Beeren, Mandeln usw. können auslösende Faktoren sein. |
[1] |
Vitamine & Co. |
|
|
|
Unterversorgung mit Kalzium und Magnesium (Co-Faktoren für die körpereigene Bildung von Dopamin), Zink (agiert u.a. auch als Dopamin-Wiederaufnahmehemmer). Siehe Abbildung 1 unten. |
[10] |
|
Oft weisen ADHS-Patienten einen niedrigen Blutspiegel an Omega-3-Fettsäuren (EPA, DHA), der Gamma-Linolensäure (GLA) sowie einen erniedrigten Omega-3-Index auf. |
[11] |
|
Ein unzureichender Vitamin B6-, Vitamin C- und Vitamin D-Blutspiegel. |
|
Umweltfaktoren |
|
|
Chronische Belastungen mit toxischen Metallen
|
Chronische Belastungen mit toxischen Metallen wie Blei, Cadmium, Kupfer, Quecksilber, Arsen und Aluminium sind bei ADHS sehr häufig. Sie können bereits in der Schwangerschaft von der Mutter zum Kind übertragen worden sein oder aus exogenen Quellen stammen. Wie z.B. von Bleibelastungen bekannt, können sie bereits in kleinsten Mengen zu kognitiven Symptomen führen. Organische Substanzen (z.B. Pestizide). Laborempfehlung: Haaranalyse. |
[8,9,10]
|

Mikronährstoffe in der ADHS-Therapie
Mikronährstoffe können als begleitende Massnahme in der Therapie von ADHS eine sinnvolle Rolle spielen. Studien deuten darauf hin, dass gezielte Supplementierungen helfen können, Defizite auszugleichen und bestimmte Symptome zu lindern.
Die folgende Übersicht zeigt die wichtigsten Mikronährstoffe und ihre Wirkung:
Nährstoffe |
Tagesdosierung, Zeitdauer |
Kommentare |
Literatur |
Omega-3-Fettsäuren (EPA, DHA) |
1-2 g (je nach Alter), 6 Monate |
Bei 6-12- jährigen ADHS-Patienten, die zuvor auf eine 6-monatige Therapie mit Ritalin und auf eine Verhaltenstherapie nicht angesprochen hatten, wurde EPA+DHA bzw. Placebo eingesetzt. Nach 3 Monaten: keine signifikanten Unterschiede. Nach 6 Monaten: signifikante Unterschiede hinsichtlich Aufmerksamkeit, Ruhelosigkeit, Aggressivität, Impulsivität, Arbeitsverhalten und Kooperation mit Eltern und Lehrern. |
[13-16, 24] |
Omega-6-Fettsäuren (Nachtkerzenöl, GLA) |
2-3 g Nachtkerzenöl (je nach Alter) |
Bei ADHS-Patienten können niedrige GLA-Blutspiegel im Labor gemessen werden. Nachtkerzenöl kann phasenweise bzw. in Abwechslung zu EPA-/DHA-Präparaten gegeben werden (z.B. auch durch Einmassieren des Öls auf dem Rücken des Kindes) |
[24] |
Zink |
15-40 mg, 3 Monate |
Zink ist ein natürlicher Dopamin-Wiederaufnahmehemmer mit hoher selektiver Bindung an den Dopamin-Transporter. Optimiert die Wirkung von Methylphenidat (Ritalin®). Nach 3 Monaten: Effektstärke 0.6 (Effektstärke > 0.5 = relevante Wirkung). |
[16,17] |
Kalzium |
1 g |
In offenen Anwendungsstudien hat sich die Gabe von Kalzium und Magnesium als überraschend erfolgreich hinsichtlich des Verhaltens und der Konzentrationsfähigkeit erwiesen. Es fehlen noch breite, kontrollierte Doppelblindstudien. |
[18-21]
|
Magnesium |
300-600 mg |
||
Eisen |
gemäss Laborstatus |
Nur bei niedrigem Serumferritin supplementieren. Eisenmangel kann die mentale Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Eisen ist ein Co-Faktor für die Umwandlung von Dopamin zu Noradrenalin. |
(25) |
Phosphatidylserin |
200-300 mg, 8-15 Wochen |
Kann ADHS-Symptome moderat verbessern, reduziert die Stressempfindung. Effektstärke: 0.4 |
[22] |
Weitere Massnahmen zur Unterstützung
Medikamente
In ausgeprägten Fällen kann die Gabe von Methylphenidat (Ritalin®) eine schnelle und wirksame Hilfe sein. Allerdings behebt die medikamentöse Behandlung allein nicht die zugrunde liegenden Stoffwechselstörungen. Daher sollte die Medikamentengabe stets im Kontext weiterer Einflussfaktoren betrachtet und individuell angepasst werden.
Ernährung
Ein ausgewogenes Frühstück mit ausreichend komplexen Kohlenhydraten kann dazu beitragen, übermässige Blutzuckerschwankungen zu vermeiden. Zudem sollte auf eine ausreichende Zufuhr von Gemüse geachtet und möglichst mit frischen Grundnahrungsmitteln gekocht werden. Der Konsum von Fertiglebensmitteln sollte reduziert werden. Als Hauptgetränke eignen sich Wasser und ungesüsste Tees [6,7].
Mikrobiom
Ein gestörtes Darmmilieu sowie eine erhöhte Darmdurchlässigkeit werden häufig in Zusammenhang mit ADHS beobachtet. Der Einsatz von Breitspektrum-Probiotika kann dazu beitragen, die Diversität der Darmflora zu verbessern und somit möglicherweise einen positiven Einfluss auf die Symptomatik zu nehmen [12].
Fazit
ADHS und die damit verbundenen Erscheinungsbilder sind ein multifaktorielles Problem. Für eine möglichst gezielte Verbesserung der Situation sollten stets die im Einzelfall eine Rolle spielenden Einflussfaktoren sorgfältig eruiert (auch mithilfe von Laboranalysen) und in der Folge auch in der begleitenden Therapie berücksichtigt werden [23]. Für die Beratung sollte die Hilfe von Fachpersonen aus Medizin, Pharmazie und Naturheilkunde in Anspruch genommen werden, die sich besonders gut mit der ADHS-Problematik, mit der Ernährung, mit Mikronährstoffen sowie auch mit chronisch toxischen Einflüssen auf den Stoffwechsel auskennen. Zudem bietet die ADHS-Organisation elpos Schweiz (www.elpos.ch) weiterführende Unterstützung für Betroffene und Angehörige.
Für eine bessere Compliance können vor allem bei Kindern individuell zusammengestellte Mikronährstoffmischungen sowie eine gestaffelte Gabe der Supplemente hilfreich sein (z. B. alle 2-3 Monate Wechsel zwischen verschiedenen Produkten). Eine langfristige und individualisierte Betreuung bleibt essenziell für eine nachhaltige Verbesserung der Symptomatik.
Literatur
[1] Feingold BF. Why Your Child is Hyperactive. Random House. New York 1974.
[2] Hafer H. Die heimliche Droge – Nahrungsphosphat als Ursache für Verhaltensstörungen und Jugendkriminalität, Kriminalistik-Verlag, 1978, Heidelberg; D&M Verlag 1984, Zürich, erweitert 1990.
[3] Núñez-Jaramillo L et al. ADHD: Reviewing the causes and evaluating solutions. J Personalized Med. 2021;11(3):166.
[4] Heilskov MJ et al. Diet in the treatment of ADHD in children – a systematic review of the literature. Nord J Psychiatry 2015;69(1):1-18.
[5] Arnold LE et al. Artificial food colors and attention-deficit/hyperactivity symptoms: conclusions to dye for. Neurotherapy 2012;9(3):599-609.
[6] Del-Ponte B et al. Dietary patterns and attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD): a systematic review and meta-analysis. J Affect Dis. 2019;252:160-173.
[7] Papanastasiou G et al. The association of diet quality and lifestyle factors in children and adults with ADHD: a systematic review and meta-analysis. Sci El Arch. 2021;14(9):39-58.
[8] Horsch P, Schurgast H. Verhaltensauffälligkeiten und Hyperaktivität bei Kindern und Erwachsenen. Schweiz Zschr GanzhMed. 2006;18:88-93.
[9] Lee MJ et al. Heavy metals’ effect on susceptibility to attention-deficit/hyperactivity disorder: implication of lead, cadmium, and antimony. Int J Environ Res Publ Health. 2018;15(6):1221.
[10] Skogheim TS et al. Metal and essential element concentrations during pregnancy and associations with autism spectrum disorder and attention-deficit/hyperactivity disorder in children. Environ Int. 2021;152:106468 .
[11] Mikirova NA et al. The orthomolecular correction of metabolic imabalances found in attention deficit hyperactivity disorder: a retrospective analysis in an outpatient clinic. J Orthomol Med 2013;28(2):1-10.
[12] Kalenik A et al. Gut microbiota and probiotic therapy in ADHD: a review of current knowledge. Progr Neuro Psychopharmacol Biol Psych. 2021:110277 .
[13] Perera H et al. Combined ω3 and ω6 supplementation in children with attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD) refractory to methylphenidate treatment. J Child Neurol 2012;27(6):747-753.
[14] Barragan E et al. Efficacy and safety of omega-3/6 fatty acids, methylphenidate, and a combined treatment in children with ADHD. J Attent Dis 2017;21(5):433-441.
[15] Chang JPC et al. Omega-3 polyunsaturated fatty acids in youths with attention deficit hyperactivity disorder: a systematic review and meta-analysis of clinical trials and biological studies. Neuropsychopharmacol. 2018;43(3):534-545.
[16] Salehi B et al. Omega-3 and zinc supplementation as complementary therapies in children with attention-deficit/hyperactivity disorder. J Res Pharm Pract 2016;5(1):22-26.
[17] Talebi S et al. The effect of zinc supplementation in children with attention deficit hyperactivity disorder: a systematic review and dose-response meta-analysis of randomized clinical trials. Crit Rev Food Sci Nutr. 2021:1-10. DOI: 10.1080/10408398.2021.1940833 .
[18] Hemamy M et al. Effect of magnesium supplementation on children with attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). J Nutr Food Security. 2017;2(4):318-323.
[19] Mousain-Bosc M et al. Magnesium, hyperactivity and autism in children. In: Magnesium in the Central Nervous System. University of Adelaide Press, Adelaide (AU); 2011. PMID: 29920003.
[20] Mousain-Bosc M et al. Magnesium and vitamin B6 intake reduce central nervous system hyperexcitability in children. J Am Coll Nutr. 2004;23:545.
[21] Skalny A et al. Magnesium status in children with attention-deficit/hyperactivity disorder and/or autism spectrum disorder. J Korean Acad Child Adolesc Psych. 2020;31(1):41.
[22] Bruton A et al. Phosphatidylserine for the treatment of pediatric attention-deficit/hyperactivity disorder: a systematic review and meta-analysis. J Alt Compl Med. 2021;27(4):312-322.
[23] Walsh WJ et al. Reduced violent behaviour following biochemical therapy. Physiol Behav. 2004;82:835-839.
[24] Derbyshire E. Do omega-3/6 fatty acids have a therapeutic role in children and young people with ADHD? J Lipids. 2017: Article ID 6285218.
[25] Wang Y et al. Iron status in attention-deficit/hyperactivity disorder: a systematic review and meta-analysis. PloS one. 2017;12(1): e0169145.